Gesundheitskonferenz 2019
„Mehr Medizin – immer mehr Lebensqualität?“
Wie viel Gesundheitsversorgung ist gesund?
Experten beschreiben das österreichische Gesundheitssystem als hochqualitativ, bestens ausgestattet, aber zu teuer. Trotzdem tritt das Phänomen auf, dass die Österreicherinnen und Österreicher gegenüber den anderen EU-Ländern sowohl beim Lebensalter als auch bei den gesunden Lebensjahren einiges aufzuholen haben. Denn die Österreicherinnen und Österreicher werden zu früh ernsthaft krank. Frauen verbringen 66,6 und Männer 65,9 Lebensjahre in guter Gesundheit. Österreich liegt hier zwei bis drei Jahre unter dem EU-Durchschnitt. Die Lebenserwartung lag 2015 bei 81,3 Jahren und liegt über dem EU-Durchschnitt, ist aber mehr als ein Jahr geringer als in Spanien, Italien und Frankreich. Vieles deutet darauf hin, dass hier nicht alles optimal läuft: und zwar organisatorisch, durch falsche Schwerpunktsetzung, zu wenig Prävention, etc. Was muss berücksichtigt werden, um das Gesundheitssystem für die Bevölkerung zu optimieren und als Nebeneffekt die Kosten im Griff zu behalten?
Diese Fragen wurden bei der 14. Steirischen Gesundheitskonferenz mit Expertinnen und Experten diskutiert, mit dem Ziel Empfehlungen für die Weiterentwicklung unseres sehr guten und von der Bevölkerung geschätzten Gesundheitssystems zu erarbeiten.
v.l.n.r.: Epidemiologe Robin Haring, Gesundheitslandesrat Christopher Drexler, Patientenombudsfrau Michaela Wlattnig, ÄK-Präsident Herwig Lindner, Gesundheitswissenschafter Roman Winkler, GÖG-Geschäftsführer Herwig Ostermann, GKK-Obmann Josef Harb
Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH erklärt in seinem Statement weswegen Österreich eine aktive Gesundheitssystemsteuerung braucht: „Gesundheitssysteme industrialisierter Länder wie Österreich stehen – nicht zuletzt auf Grund des technischen Fortschrittes als auch der demographischen Entwicklung vor der Herausforderung steigender Gesundheitsausgaben. Während in der Vergangenheit diese Herausforderungen größtenteils über Produktivitätssteigerungen oder Kostenreduktion bei den Gesundheitsdienstleistern adressiert wurden, werden in letzter Zeit zunehmend Ansätze zu „value based health care“ diskutiert, die an Stelle des reinen Zählens von Leistungen den Wert der Leistungen in den Vordergrund stellen. Denn letztlich geht es darum Nutzen zu stiften, für den einzelnen Patienten und für die Gesellschaft.“
Der Gesundheits- und Sozialwissenschafter Roman Winkler vom Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment (HTA) in Wien zeigt in seinem Vortrag die Aufgaben von HTA auf, die „gepaart mit Versorgungsforschung Methoden der Wahl, um Über- und Fehlversorgung im Gesundheitssystem sichtbar machen. Zudem findet HTA zunehmend Anwendung in der Bewertung von komplexen Public Health Anwendungen. Die Bedeutung von HTA eröffnet sich u.a. vor dem Hintergrund einer steigenden Zahl an internationalen Initiativen, die sich mit einer Reduktion medizinischer Überversorgung befassen.“
Robin Haring, Epidemiologe aus Rostock sieht die High-Tech-Medizin als ein Schlüsselthema der künftigen Entwicklung der Gesundheitsversorgung. „Die rasante Entwicklung moderner Diagnostikverfahren, genetischer Analysen und individualisierter Therapien versprechen die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen zu steigern und unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden.“
Gesundheitslandesrat Christopher Drexler sieht die notwendigen Veränderungen für eine nachhaltige Weiterentwicklung des Gesundheitssystems jedenfalls im Ausbau von Prävention und Gesundheitsförderung. „Mit den Gesundheitszentren, wo Ärztinnen und Ärzte mit anderen Gesundheitsberufen – wie etwa Diätologen oder Physiotherapeuten – zusammenarbeiten, setzen wir auf ein Modell, in dem gut abgestimmte und auch für die Patientinnen und Patienten besonders effiziente Versorgung geboten wird. Gleichzeitig muss das Angebot der Digital Healthcare-Versorgung in einem hohen Ausmaß verstärkt werden. Die Steiermark ist nicht umsonst Vorreiter im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung. Wir wollen den technischen und den medizinischen Fortschritt nutzbar machen, um den Patientinnen und Patienten eine genau auf sie abgestimmte Behandlung zukommen zu lassen – und das möglichst einfach für jeden Einzelnen. Im Zusammenspiel mit den bewährten Strukturen unserer Gesundheitsversorgung wollen wir so unser oberstes Ziel, nämlich die gesunden Lebensjahre der Steirerinnen und Steirer zu erhöhen, erreichen.“, betont Drexler.
„Gesundheit ist ein Menschenrecht! Menschen haben ein Anrecht auf bestmögliche Versorgung. In Österreich sind 99,9 Prozent der Bevölkerung durch die soziale, solidarische Krankenversicherung geschützt. Dieser Wert ist einzigartig und stellt eine der größten Errungenschaften dar, die wir unter allen Umständen bewahren müssen. Es werden ja immer mehr Tendenzen sichtbar, die unser Gesundheitssystem in eine private, gewinnorientierte Richtung lenken wollen. Vor dieser Entwicklung kann gar nicht genug gewarnt werden“, betont der Obmann der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse, Josef Harb. „Damit wir uns die hervorragenden Versorgungsstrukturen für alle Menschen weiter leisten können, sind gewisse Lenkungseffekte unumgänglich. Die Sozialversicherung kann nicht alles zahlen, den Rahmen dafür gibt das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz vor. Ob immer mehr Medizin die Lebensqualität steigert, muss wohl jeder für sich entscheiden. Ganz bestimmt steigert aber der Ausbau von Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz unsere Lebensqualität – gar nicht erst krank zu werden, ist sicher der wertvollste Eckpfeiler für ein glückliches Leben“, ergänzt der steirische Kassenobmann.
ÄK-Präsident Herwig Lindner weist auf das Spannungsfeld zwischen Kostendruck und den Wünschen der Patientinnen und Patienten hin, in dem sich die Ärztinnen und Ärzte bewegen müssen: „Wir leben in einer „Ich-will-alles-und-das-sofort“-Gesellschaft. Das betrifft viele Lebensbereiche, aber natürlich auch die Medizin. Jede Ärztin, jeder Arzt kennt den Fall, wo eine Patientin oder ein Patient im Grunde gar nichts braucht außer ein wenig Geduld, aber sofort ein MR will. Wird es gemacht, belastet es das System und verursacht hohe Kosten. Wird es verweigert, ist die Patientin oder der Patient empört. Die Ärztin oder der Arzt muss damit rechnen, am Medienpranger zu landen. Wenn wir wollen, dass teure und überflüssige Untersuchungen und Therapien vermieden werden, müssen wir den Ärztinnen und Ärzten vor allem eines geben: genug Zeit für das überzeugende Gespräch. Das geht aber nur, wenn es genug exzellent ausgebildete Ärztinnen und Ärzte gibt, und die nicht durch Zeitmangel dazu gezwungen, die Patientinnen und Patienten in Höchstgeschwindigkeit durchzuschleusen.“
„Patientinnen und Patienten, mit deren Anliegen die Patienten- und Pflegeombudschaft des Landes Steiermark regelmäßig betraut ist, geht es nicht in erster Linie um den medizinischen Fortschritt, d.h. ein „Mehr“ an Behandlung und auch nicht um die vermeintlich „beste“ und fortschrittlichste Behandlung. Es geht den Menschen um eine Medizin, die ihren Gesundheitszustand nicht in erster Linie aufgrund von diagnostischen Instrumentarien bewertet, sondern um ein „Mehr“ an „Zuwendung“ im Sinne des Zuhörens und Ernst-Genommen-Werdens dessen, was der Patient schildert, wie es ihr oder ihm geht. Das heißt, wenn eine Behandlung notwendig ist, möchte die PatientIn Zeit für Aufklärung und die Möglichkeit, Fragen stellen zu können und zu dürfen. Dies beugt einer möglichen „Überforderung“ vor“, erklärt die PatientInnen- und Pflegeombudsfrau Michaela Wlattnig. „Das Team der Patienten- und Pflegeombudschaft erfährt auch in den Beratungen betreffend die Errichtung von Patientenverfügungen, dass Patienten sich vermehrt Gedanken darüber machen, welche medizinischen Maßnahmen nicht getroffen werden sollen, wenn sie selbst nicht mehr entscheiden können. Der Aspekt der Selbstbestimmung und Würde sollte bei allem medizinischen Fortschritt in den Mittelpunkt stehen“, führt Wlatting abschließend aus.