Gendergerecht und fair Krisen bewältigen

Rund 100 Teilnehmer*innen trafen sich am 11. November 2022 zur ersten Veranstaltung des Fachbeirats für gendergerechte Gesundheit der Gesundheitsplattform Steiermark. Im Messecongress Graz wurden Lösungen erarbeitet, um Krisen künftig fairer und gendergerechter zu bewältigen.

Gesundheitslandesrätin Juliane Bogner-Strauß betonte im Zuge der Veranstaltungseröffnung das große Potenzial, das u. a. ein Blick nach Finnland offensichtlich macht. „In Finnland ist die Care-Arbeit gleichermaßen zwischen Männern und Frauen aufgeteilt. Bei uns wird die unbezahlte Care-Arbeit zu Dreiviertel von Frauen geleistet, die Pandemie hat die Situation leider verschärft. Umso wichtiger daher, gemeinsam Lösungen zu finden, die uns dabei helfen, es in Zukunft besser zu machen.“ Die Gesundheitslandesrätin verwies dabei auch auf aktuelle Schwerpunkte in der Gesundheitspolitik, bei denen die Mädchen- und Frauengesundheit im Fokus steht.

Breit angelegte Strategie

„Es ist leider immer noch so, dass die unbezahlte Care-Arbeit überwiegend von Frauen geleistet wird. Dieses Ungleichgewicht bereitet gewaltige Probleme und stellt meines Erachtens den größten Hemmschuh dar, Gendergerechtigkeit in möglichst allen Bereichen zu stärken und in weiterer Folge ganz selbstverständlich zu leben“, lautet die Bestandsaufnahme von Josef Harb, Vorsitzender des ÖGK-Landesstellenausschusses in der Steiermark. Generell wünscht sich Harb zur Bewältigung akuter und künftiger Krisen eine möglichst breit angelegte Strategie für alle Bevölkerungsgruppen, die beispielsweise auch Kinder, ältere Menschen und Personen mit besonderen Bedürfnissen umfasst.

Gendergerechte Gesundheitspolitik

Lisa Rücker, Vorsitzende des Fachbeirats für gendergerechte Gesundheit, gab Einblick in die Arbeit des Gremiums: „Unser interdisziplinär arbeitendes, ehrenamtliches Fachgremium verbindet Felderkompetenz aus unterschiedlichen Bereichen. Wir sind beratend für die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsplattform tätig und waren beispielsweise auch in die Weiterentwicklung der Gesundheitsziele involviert. Mit unserer ersten Veranstaltung wollen wir einen Beitrag leisten, um bei künftigen Krisen mehr Gerechtigkeit und Fairness in die Maßnahmen integrieren zu können.“

Gendergerecht Krisen bewältigen - Veranstaltungsfoto

v.l. Lisa Rücker (Vorsitzende des Fachbeirats für gendergerechte Gesundheit), Margarethe Hochleitner (Medizinische Universität Innsbruck), Kristina Hametner (Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele des Magistrats Wien), Juliane Bogner-Strauß (Gesundheitslandesrätin)
© Gesundheitsfonds/Hutter

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Strukturelle Benachteiligung von Frauen

Eine feministische Public Health Analyse zum Thema Frauengesundheit und Corona zog Kristina Hametner vom Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele des Magistrats Wien in ihrem Vortrag. Die „Lobbyistinnen“ für Frauengesundheit haben sich in einem Sammelband der Corona-Krise als Gesundheitskrise gewidmet und dabei eine strukturelle Benachteiligung von Frauen aufgezeigt. Hametner verwies auf die Auswertung des Austrian Corona Panel Projekts. Diese zeigten, dass Väter durchschnittlich drei Stunden täglich mit Kinderbetreuung verbrachten, Mütter hingegen sieben Stunden. Auch waren sie mit rund drei Stunden durchschnittlich doppelt so lange mit unbezahlter Hausarbeit beschäftigt als Väter. „Frauen haben ihre gesamte Tätigkeit für Beruf, Haushalt und Familie an den Bedürfnissen ihrer Kinder und Partner ausgerichtet“, brachte es Hametner auf den Punkt. Auch wurden viele Entscheidungen – etwa in diversen Corona-Gremien – primär von Männern getroffen. „Ein wichtiges Learning ist auf jeden Fall, dass Frauen in solchen Gremien besser vertreten sein müssen, sie sind die Expertinnen für ihre Lebenswelten“, betonte Hametner und erläuterte dies anhand zahlreicher Beispiele. „Dann wüsste man, dass berufstätige Mütter offene Kindergärten und Schulen benötigen und Homeschooling und Homeoffice nicht nebeneinander funktionieren.“ Wichtig sei es außerdem, seriöse Informationen in mehreren Sprachen über Massenmedien zu kommunizieren und die Gesundheitskompetenz zu stärken.

Ein weiteres Ergebnis der Analysen: der „desaströse psychische Gesundheitszustand“. Eine Befragung nach dem zweiten Corona-Lockdown ergab, dass jede fünfte Frau Suizidgedanken hat. Hilfsangebote seien zwar vorhanden, „leider kommen sie aber oft bei denen, die sie am wichtigsten benötigen, am wenigsten an“.

Am Ende ihres Vortrages verwies Hametner auf ein Zitat von Johanna Dohnal, das vieles verdeutlicht: „Solange mehrheitlich Männer darüber entscheiden können, was für Frauen, Kinder und sie selbst gut ist, wird es die erforderlichen substanziellen Quantensprünge nicht geben.“

Gendermedizin stärker berücksichtigen

Margarethe Hochleitner von der Medizinischen Universität Innsbruck widmete sich den Learnings in Bezug auf Gender/Diversitas und Corona. Sie verwies darauf, dass seit Langem bekannt ist, dass Frauen seltener an Infektionskrankheiten erkranken als Männer. Auch sei der Verlauf bei Männern schwerer und die Anzahl der Todesfälle höher. Sie kritisierte, dass „alte Frauen“ in der Corona-Kommunikation sehr häufig als große Risikogruppe dargestellt wurden – „wenn wir uns nicht an die Maßnahmen halten, stirbt die Großmutter“. Die tatsächlichen Zahlen zeigten jedoch ein anderes Bild.  Allergien und Unverträglichkeiten treten bei Frauen hingegen deutlich häufiger auf als bei Männern. Bei Impfungen und Medikamenten sei es wichtig, die unterschiedlichen Wirkungen auf Männer und Frauen zu berücksichtigen, was aber bei den Impfempfehlungen nicht einmal angesprochen wurde. Für Hochleitner steht außer Frage: „In der Coronazeit gab es praktisch keine Gendermedizin.“ Sie sprach sich dafür aus, bei künftigen Gesundheitskrisen „Gendermedizin als Querschnittmaterie in alle Überlegungen einzubeziehen. Die Voraussetzungen dafür sind natürlich gegenderte Daten.“

 

Lösungen für mehr Gendergerechtigkeit

Wie in Zukunft besser mit (Gesundheits-)Krisen gendergerecht und fair umgegangen werden kann und was wir aus dieser (Gesundheits-)Krise gelernt haben, war im Anschluss Thema in den Arbeitsgruppen. Für die einzelnen Bereiche d wurden die unterschiedlichsten Aspekte analysiert, nachstehend eine Auswahl:

Psychologie & Beratung

  • Positiv: Awareness für einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff ist gestiegen
  • Informationspolitik in zwei Richtungen: einerseits gezielt und sehr spezifisch an die Bevölkerung und andererseits Integration von Personen, die direkt mit der Krise zu tun haben („Meldesystem“)
  • Kommunikationspolitik: Wachsamkeit gegenüber Instrumentalisierung, nicht Angst und Panik verbreiten
  • Systemrelevanz: Definieren, was unter „systemrelevant“ verstanden wird
  • Rechtsanspruch auf Prävention, kostenfrei und niederschwellig zugängliche Psychotherapie
  • Diejenigen, die während der Pandemie Profit gemacht haben dazu anregen, diese Profite in das soziale System wieder einspeisen
  • Auch in einer Krise möglichst viel Normalität und Tagesstruktur aufrechterhalten
  • Politik sollte den Rahmen vorgeben, Institutionen aber den Freiraum haben, selbst die konkreten Lösungen/Umsetzungen zu entwickeln (hohe Autonomie)

Pflege

  • Vulnerable Gruppen in die Erarbeitung und in die Kommunikation von Maßnahmen und Krisenplänen aktiv einbinden
  • Möglichst alle Bereiche betrachten (passiert z. B. auch derzeit bei der Blackout-Vorbereitung nicht, hier werden z. B. chronisch Kranke, die auf elektronische Devices angewiesen sind, nicht berücksichtigt)
  • Migrant*innen übernehmen in einem hohen Maß die Heimpflege zuhause, es braucht daher interkulturell kompetente Pflegeeinrichtungen
  • Care-Infrastruktur nicht zurückfahren
  • Medizinischer Versorgungsbereich: Hierarchiefreiere Situation in Krankenhäusern, leichterer Zugang
  • Zugang zu Schwangerschaftsabbruch in allen öffentlichen Krankenhäusern Österreichs gewährleisten

Bildung

  • Gendermedizin und Gesundheitskompetenz muss in den Lehrplänen vorhanden und auch in Unis, Pädagogischen Hochschulen etc. thematisiert werden
  • Psychische Belastungen: Schulpsychologischen Dienst ausbauen – Psychologen an alle Schulen
  • Jährliche Schuluntersuchung verbessern/ausbauen (ev. über „school nurses“)
  • Nicht „von oben herab“ Workshops bzw. Themen vorgeben, sondern aktiv die Jugendlichen nach ihren Interessen fragen
  • Preise für Masterarbeiten im Genderbereich
  • Gendermedizin stärker in die Gesundheitsausbildung integrieren

Arbeit und Soziales

  • Umverteilung der unbezahlten Care-Arbeit
  • Gender-Aspekt bei neuen Maßnahmen gut überlegen, z. B. Pensionsreform – massive Schlechterstellung der Frau)
  • Aufwertung der bezahlten Care-Arbeit
  • Rechtsanspruch auf Vollzeit-Kinderbetreuung
  • Niederschwelliger Zugang zu Behörden und Leistungen

Gesundheitsförderung  

  • Mehr Interdisziplinarität und Intersektionalität v.a. dort, wo Entscheidungen getroffen werden
  • Gute, gerechte soziale Absicherung
  • Verteilungsgerechtigkeit
  • Neubewertung von Erwerbs- und Sorgearbeit (Schaffen von Strukturen, die möglichst familien- und kinderfreundlich sind; neue Arbeitszeitkonzepte)
  • Gesundhits- und Carekompetenz stärken
  • Transparente, verständliche Kommunikation, v.a. bei Gesundheitsinformationen

Kinder & Jugend

  • Klar kommunizieren was man weiß, aber v.a. auch was man nicht weiß
  • Mehr Information: Viele Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien hatten niemanden, der sie bei der Schularbeit unterstützt hat
  • Ein Netzwerk aufbauen, sodass man genau wie, an welche Stellen man sich im Krisenfall wenden kann
  • Eigenverantwortung: Wenn man klar informiert ist, kann man seine Handlungen besser selbst verantworten
  • Maßnahmen waren sehr stark auf den Mittelstand ausgerichtet; niemand hat sich überlegt, wie es Kindern, Frauen und Älteren geht
Gendergerecht und fair (Podiumsteilnehmer der VA)

v.l. Eva Taxacher (Moderatorin), Juliane Bogner-Strauß (Gesundheitslandesrätin), Josef Harb (Landesstellenausschuss-Vorsitzender ÖGK Steiermark), Elke Edlinger (Mehr für Care), Bernadette Pöcheim (AK Steiermark), Sandra Jakomini (Netzwerk Steirische Frauen- und Mädchenberatungsstellen), Alexander Moschitz (Moderator)
© Gesundheitsfonds/Hutter

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„Das System neu denken“

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion.

Gesundheitslandesrätin Juliane Bogner-Strauß bedankte sich für die breit gefächerten Lösungsansätze in den Arbeitsgruppen. Sie betonte die Wichtigkeit einer niederschwelligen und flächendeckenden Versorgung. Großes Potenzial bestehe noch in der Gendermedizin, auch die Kinderbetreuung – v.a. im ländlichen Raum – müsse noch stärker ausgebaut werden, um Frauen eine Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen.

Für Josef Harb, Landesstellenausschuss-Vorsitzender ÖGK Steiermark, zeigte sich aus den Diskussionsbeiträgen die Komplexität und die vielen Lebensbereiche, die ineinandergreifen. Es brauche noch deutlich mehr Fokus auf Gesundheitsförderung – nicht die Reparaturmedizin dürfe das vordergründige Thema sein. Auch bei der Gesundheitskompetenz sieht Harb noch viel Luft nach oben.

Elke Edlinger von „Mehr für Care“ sah in vielen der Forderungen aus den Arbeitsgruppen Inhalte ihres Programms, etwa die Aufwertung von Care-Arbeit. „Wir müssen die ganze Gesellschaft und das System neu denken. Zwei Drittel aller bezahlter und unbezahlter Arbeitsstunden weltweit sind Care-Arbeit. Ich muss daher anfangen, unser ganzes Wirtschaftssystem neu zu denken, in dem ich Care in den Mittelpunkt stelle“, sprach sich Edlinger für ein neues System des Wirtschaftens aus.

Aus der Sicht von Bernadette Pöcheim, Arbeiterkammer Steiermark, braucht es eine Neubewertung der Arbeit. „Die Krise hat gezeigt, welche Berufe systemrelevant sind. Und das sind jene, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt sind.“ Auch brauche es einen noch deutlich stärkeren Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur – ebenso eine bessere Verteilung der unbezahlten Arbeit. Leider gäbe es nach wie vor kaum Männer, die in Karenz gehen. „Da brauchen wir einen partnerschaftlichen Ansatz.“ Auch dürfe auf Gruppen wie Alleinerzieher*innen und migrantische Gruppen nicht vergessen werden.

Sandra Jakomini vom Netzwerk Steirische Frauen- und Mädchenberatungsstellen braucht tägliche Erlebnisse in ihrer Arbeit in der Frauenberatungsstelle in die Diskussion ein. „Leider sind Gewaltberatungen immer wieder Thema, da gab es einen Anstieg.“ Und oft sei ein rascher Beratungsabschluss aufgrund von vielschichtigen Problemlagen schwierig. Finanzielle Herausforderungen sind für viele eine Belastung, sprach Jakomini ein aktuelles Beispiel an.

Zum Abschluss bedankte sich das Moderator*innen-Team Eva Taxacher und Alexander Moschitz von der GenderWerkstätte für das Engagement der Teilnehmer*innen und die breit gefächerten Lösungsansätze, die eine wichtige Basis sind, um künftige Krisen gendergerecht und fair bewältigen zu können.